Phantom


Ich habe mir ein Gelenk ersetzen lassen. Und siehe da, Wunder und Segen der Medizin und Technik, es funktioniert. Nur dass das eigene Alte voll mit Rezeptoren war, die mein Gehirn mit Informationen versorgten. Nun aber – Funkstille. Für mein Gehirn ist da, wo das alte Gelenk war, nichts. Leere, ein Phantom. Und so benimmt sich das Gehirn auch mit seinen Befehlen an das nicht vorhandene Gelenk: Ist da nichts, geht auch nichts. Die Muskeln könnten leicht schon tragen, tun und arbeiten. Das Gelenk hält, mein Gehirn aber meint: Wo nichts ist, kann auch nichts werden, kann sich nichts bewegen. Es versteht mein Gelenk als Loch, somit auch als Gefahr.

Also Ende mit den Automatismen, viele Bewegungen werden zur Willensprüfung, zur täglich oft wiederholten Übung. Das hat natürlich zur Folge, dass die Muskeln nicht wissen, wer jetzt, wann was – und überhaupt. Willentlich befohlene Muskelkoordination führt ins Chaos. Und so verabschiedet sich die eine Hälfte vom Job, die andere verspannt sich, es wird auf beiden Seiten fest gezerrt oder widersinnig entspannt. Ein wunderbares und schmerzhaftes Beispiel für so manches Gemeinwesen.

Keine Angst, ich werde es durch viel Übung lernen! Aber ich habe ein Phantom mitten im Körper. Jedenfalls ist es ein super Hightech-Titan-Phantom. Aber eben ohne Rezeptoren, welche dem Hirn irgendetwas mitteilen, also ein Geist. Klar, dass mein Hirn meint, da sei nichts, worauf man sich stützen könne.

Wie viele solche Geister leben auch in meinem Umfeld?

Situationen, Dinge und Menschen, Eigenarten, die ich nicht einordnen kann, für die ich keine Rezeptoren habe, die ich nicht verstehe, die praktisch für mich nicht existieren, obwohl sie da sind, für alle deutliche Realität? Was, wenn meine gelernten Automatismen ausfallen, ich plötzlich völlig daneben liege?

Unlängst erlebte ich das in meinem Dorf, in dem man auf der Straße grüßt: Mein Gruß schallte in ein Hörgerät, welches anscheinend seinen Dienst nicht ausreichend tat. Sofort bekam ich die Retourkutsche: „Kånnst net griaßn?“, das mir, mit damals wohl schon fünfzig höflichkeitstrainierten Lenzen am Buckel. Zum Glück wurde der Satz nicht auch noch durch ein gängiges Schimpfwort geschmückt, zumindest nicht laut.

Phantome.

Weiß ich alles, verstehe ich mein rundherum? Sehe ich alles? Unser globales Dorf kämpft gerade mit solch einem Phantom. Und so auch im persönlichen Leben: Kann ich davon ausgehen, dass meine Kommandozentrale automatisch das Richtige trifft? Wurde nicht da und dort schon lange das mir von Kindheit an Vertraute ersetzt? 

Also auch hier ist das Bewusstsein einzuschalten, jede Begegnung muss auch Willensprüfung sein, muss das Positive, Liebevolle, Freundliche mitleisten. Oft auch wenn ich neue Ideen in eine Geisterlandschaft bringen möchte, muss ich die Sprache treffen, übersetzten, erklären, für Neues einladen, Ideen einüben. Was automatisch geht, ist nicht neu, altes verhilft selten zur Veränderung.

Gesellschaftsgeister – unangenehm, aber auch eine Chance – wenn man bereit ist, die Willensübung mit vielen Wiederholungen gerne zu tun.

 

 

 

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