tjanuk – Leseproben

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Taurin

Wasser.

Nicht Wasser, wie in Ozeanen, die ihre Wellen gegen Felsufer donnern, dass es nur so eine Freude ist und man meinen könnte, Erdbeben würden an den Küsten rütteln. Auch nicht Wasser, wie in den wilden Bächen, die sich durch die Berge furchen, mit rauschendem Spaß über Abhänge springen und in brausenden Wasserfällen ihre Gischt versprühen, sodass die Sonne bunte Regenbögen in die spritzenden Nebelleinwände malen kann. Nicht Wasser, wie in ruhigen Teichen, die nichts stört, in denen sich grüne Wunderbäume spiegeln und wo nur manchmal ein springendes Fischlein Kreise auf die glatte Oberfläche wirft. Kreise, die sich dann, einer nach dem anderen, in geordneter Manier gegen das Ufer ausbreiten, sich zurückwerfen lassen, um in sich verlaufend der Stille wieder Raum zu bieten, nein. Wasser eher so, wie es in Wattewolken vorkommt, derart fein, dass es in der Luft schweben kann, Minitropfen, die fliegen können, so leicht sind sie, doch bald schon ein wenig größer, dann schon ein wenig schwerer, sodass sie sich auf dem grünen Blätterdach der großen Eiche mitten im Wald bequem niederlassen können.

 

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Put aber liebte es, auf Ästen in Bäumen die Waldnachtluft zu genießen. So schlief er am liebsten dort, wo die Blätter am Abend im Wind wiegend mit ihrem Rauschen zum Schlaf einluden. Da nahm er den kleinen Weckdienst des Morgentaus gerne in Kauf. So konnte er auch gleich genießen, wie die Morgensonne mit ihren Strahlen helle Streifen durch den Wald zauberte, die grün und sonnengold im Tau um die Wette glänzten. Um diese Zeit roch der Wald auf eine einzigartige Weise frisch und klang unvergleichlich neu. So als wollte der Tag mit seiner wundervollen Neuheit und Unschuld einen jeden in sein Abenteuer ziehen, ganz gleich, welcher Preis dann am Abend zu zahlen sein würde.

Put setzte sich also auf, schüttelte auch das Nass von sich, das sich während der Nacht auf ihn gelegt hatte, kletterte zum Stamm, um sich so zu richten, dass ein breiter Sonnenstrahl ihn wärmen, trocknen und in wohlige Morgengedanken wickeln konnte, mit denen er seinen Träumen nachspürte, die diese Nacht wohl besonders spannend gewesen waren.

Denn da war dieses Haus, das Reh, als die Tür aufging und dann? Ja was war da, eine Ahnung, ein Gespür für das, was kommen würde? Und schon war der Traum wieder entflogen, ließ sich beim besten Willen nicht mehr greifen. Aber da war noch die Geschichte mit dem Wurzeltiger, der lossprang, nach seiner Beute griff, sich über dem Wasserfall auflöste, … dann war auch dieser Traum in die Nacht zurückgekehrt zu seinen finsteren Freunden, nachdem er Put noch einmal den gleichen Schauer über den Rücken gelegt hatte, wie im Schlaf.

Solche Bilder überraschten Put, war doch sein Leben genauso wie seine Träume normalerweise von Ruhe und Harmonie geprägt. Ein scheues Reh vor einem Haus, ein Wurzeltiger auf Beutefang, woher kamen solch beunruhigenden, unklaren Ideen wohl? So saß Put in der Sonne, seinen Träumen nachhängend, während er langsam trocknete und das Gefühl, was da alles war und auf ihn zukommen könnte, verließ ihn, wie die Kühle der Nacht, bevor es noch als Gedanke Form angenommen hatte. Er dankte seinem Schöpfer, es war ein guter Morgen. Etwas Neues war in Put geweckt, heute würde er sich etwas vornehmen, vielleicht sogar etwas Besonderes. Zuerst aber musste gefrühstückt werden.

Put griff in seine linke Manteltasche – da waren zwei Nüsse, in der Brusttasche noch ein scharfes Zwirbelkraut, in seiner rechten Manteltasche sollte ein Traubenapfel sein, mit seinem leichten Zimtgeschmack, Put griff hinein – oje – er tatschte in warmes Mus. Er musste sich in der Nacht wohl so gedreht haben, dass er auf dem Traubenapfel zu liegen gekommen war. Jetzt konnte er sich nur noch die klebrigen süßen Finger ablecken, die Nüsse dazu essen und den Morgensnack mit dem Zwirbelkraut beschließen, um einen scharfen Zwiebelgeschmack im Mund zu halten. Put liebte süß–scharf! Etwas Morgentau von den Blättern geschlürft, so formte sich in seinem Mund der erste Vorgeschmack, der ihn nun zu weiteren Entscheidungen führen konnte.

Also machte er sich auf den Weg, schwebte vorsichtig aus der Baumkrone seiner Schlafeiche heraus, um nicht einen Tauregen auszulösen – er hatte ja schon geduscht – und sobald er frei aus der Krone heraus war, legte er sich waagrecht in die Luft, um loszusausen. Vorbei am Eichhörnchenbau im nächsten Baum, wo die blauen Eichhörnchenkinder am Ast herumtollten, einmal um den weißen Uhu, der sich eigentlich schon zum Schlafen festgekrallt hatte (dabei färbte sich Put für Sekunden ganz weiß), hinauf, weit über das Blätterdach des großen Waldes, um schnell einen Doppellooping mit Schrauben–Kamikaze–Sturzflug und Flatterohren hinzulegen, dann in voller Geschwindigkeit zwischen den Baumstämmen Slalom in Richtung Tiefer Baum.

 

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Zoon entschied für das Leben. Er verließ den Oriak durch den zuerst gewählten Gang, den er von außen versiegelte, sodass der Zugang zum Oriak weiter unsichtbar und verschlossen blieb. Die Vorrichtung, welche die Felsentür öffnete, konnte nur von innen bedient werden, von außen gab es keine Möglichkeit, den Gang zu finden oder zu betreten. Zoon ging in die den Gegnern entgegengesetzte Richtung, lautlos im Wald verschwindend. Sie würden noch länger warten müssen oder konnten sich am Oriak die Zähne ausbeißen. Er entfernte sich vom Ort, ging etwas weiter hinter dem Oriak schließlich einen Berghang hinauf, immer mehr an Höhe gewinnend. Von einem höher gelegenen Aussichtspunkt konnte er nun alle sechs Angreifer sehen. Der Anführer, der einäugige Wanderer, hatte sich so positioniert, dass er den Kampf verfolgen, unter Umständen eingreifen, sich aber auch zurückziehen konnte. „Ein vorsichtiger Kerl“, dachte Zoon, „nicht dumm, was er nun schon öfter bewiesen hatte.“ Nach nicht allzu langer Wanderung hörte Zoon Auruns vertrauten Gang. Das Pferd ließ sich Zeit, blieb ruhig, bis sich ihre Wege ganz natürlich trafen. Zoon stieg auf, ritt ein Stück, bis er etwas weiter auf einen Weg stieß, der ihn bald aus dem Wald führte. Da nahm er eine weitere Präsenz wahr. Er ließ sich von der Seite des Pferdes gleiten, zog einen Pfeil aus seinem Köcher, um in die Richtung anzulegen, in der er seinen Gegner vermutete. Noch jemanden hier anzutreffen, machte ihn neugierig, denn er war sich sicher, dass die sechs Kämpfer beim Oriak nicht wussten, wo er war.

 

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Herin war Einsiedler geworden. Seit einigen Jahren lebte er in einer kleinen Hütte im Wald, weit weg von jeder menschlichen Siedlung. Er lebte von dem, was der Wald, seine Hühner und Ziegen, das kleine Feld, das er auf einer Lichtung betrieb und der Gemüsegarten ihm lieferten. Die Nähe von Menschen suchte er nur, wenn er Mehl oder andere Güter brauchte, um sich ausreichend versorgen zu können. In seinem Leben hatte er genug gespart, um mit einem bescheidenen Lebensstil durchzukommen. Außerdem stellte er kleine praktische Werkzeuge aus Holz und Weidenkörbe her, welche sich immer gut eintauschen oder verkaufen ließen. Dazu besuchte er selten aber doch mit seinem Esel Märkte, wodurch er sich eigentlich nicht als strengen Eremiten, sondern einfach als zurückgezogen verstand.

Er war froh, wenn er alleine war, hatte genug von Menschen. Von Kindheit an war er in den Hamsterrädern der Leute gelaufen. Kaum hatte er eines verlassen, wurde ihm schon das nächste aufgestellt. Nie war es genug, immer hätte es besser, schneller, genauer sein können. So war er erzogen, so war er aufgewachsen, so wurde er in die menschliche Gemeinschaft aufgenommen, so wurde es von ihm erwartet und so wurde er sein Leben lang behandelt. Er hatte in seinem Leben kaum Freunde gehabt, erkannte er später. Da er den Anforderungen nie genügte, war er der Verspottete, der Verlachte. Zu lahm, zu dumm, zu verträumt, was auch immer. Sein Umfeld entzog ihm alle Lebenskraft, indem es ihn beschämte, sich an seiner Unfähigkeit labte. Sie hatten ihn als Kind mit dieser Vorstellung gebrandmarkt, dann nie aufgegeben, ihn so zu sehen. Nie hatte er in die Formen gepasst, in die sie ihn zu pressen suchten. Fünfzig Jahre musste er leben, bis er dem ein Ende setzte. Er konnte es nicht mehr ertragen. Es hatte ihn krank gemacht. Da er immer für sie gelaufen war, hatte er es zu etwas gebracht. Sie zahlten nicht schlecht für seine Dienste. Doch irgendwann war ihm der Buckel wund geworden, an dem sie ihre Schuhe abstreiften. Irgendwann konnten seine Ohren den Hohn nicht mehr hören, mit dem sie ihn bedachten. Irgendwann konnte er die Frechheiten nicht mehr schlucken, die sie ihm zuwarfen. Aber es hatte lange gedauert, bis er erkannt hatte, dass sie ihre Schuhe an ihm abstreiften, dass die schönen Worte nur Hohn waren, dass sie ihm ihre Frechheiten gut getarnt und mit Honig geschmiert ihm in die Kehle gestopft hatten. Er war so lange Teil des Spiels gewesen, dass es ihm nicht möglich war, ihre Grausamkeiten zu durchschauen. So merkte er lange nicht, dass ihm Gewalt angetan, er benutzt wurde, gegängelt, an der Leine vorgeführt wie ein Hund. Erst als er krank wurde, seine Haut sich in Ausschlägen aufzulösen begann, als er das Haus nicht mehr verlassen konnte, sie nicht aufhörten, mit ihrem Hohn, musste er erkennen, dass sie ihn nie für voll genommen hatten. Dass sie ihn immer mit einem anderen Maß gemessen hatten, als sich selbst.

Da hatte er einen Punkt gemacht, den Strich unter die Rechnung gezogen. Er hatte seiner Frau Vieh und Hof hinterlassen, sich sich ein Viertel der Ersparnisse, einen Teil seiner Sachen, ein paar Ziegen, ein paar Hühner, den Esel genommen. Die Pferde und den Rest des Viehs hatte er nicht angerührt, aber ein Zehntel der Samen genommen, um etwas anzubauen, alles auf den Wagen geladen, den er dem Esel anhing und war gegangen. Kora, seine Frau hatte geschrien, getobt, ihm Dinge nachgeworfen, war dann in der Wiese vor der Tür gekniet und hatte geheult. Er hatte sich von ihr weg gedreht, auch ihm waren die Tränen bitter über die Wangen geronnen, ihren und seinen Schmerz ertragend hatte er einen Fuß vor den anderen gesetzt. Daran wäre er fast endgültig zugrunde gegangen, denn er liebte seine Frau und die nun schon erwachsenen Kinder. Aber wäre er geblieben, hätte es ein schlimmes Ende genommen. Also war er gegangen.

Später, als er in seiner Klause zur Ruhe gekommen war, beschrieb er seinen Abschied in folgenden Worten:

 

Die Haut zu Markte tragen

Da habt ihr sie,

ihr Menschenfresser, süße Heuchler,

schlagt eure Zähne drein.

 

und wie ihr daran zerrt und nagt

erkenne ich, wie wenig doch

ihr mir ans Herz nur konntet

 

warum war ich von Angst gebremst

warum wohl schwieg ich zu dem schlechten Spiel

wo ihr doch nur so traurig seid

 

da ich nun tot und neue Wege gehe

erkenn ich erst wie dringend ihr

mein Herz benötigt hättet